Ein altes Holzboot, genug Seglerlatein und hilfsbereite Menschen – viel mehr braucht es nicht um in sechs Tagen Deutschlands größte Insel zu umsegeln.
Die Pomeranus II liegt gleichauf mit dem Leuchtturm von Cap Arkona, dem nördlichsten Zipfel Rügens. Glücksgefühle machen sich breit. Nur noch zwei Stunden über den Tromper Wiek, dann haben wir das Etappenziel – den Hafen von Glowe – erreicht. Plötzlich reißt mir eine heftige Windböe die Schot des Großsegels aus der Hand. Der Baum mit dem gesetzten Segel schlägt bedrohlich hin und her, die Wucht ist gewaltig. Es gilt kühlen Kopf zu bewahren. Sonst droht der Baum samt Segel aus der Mastnut zu brechen.
Auf jede Sekunde kommt es jetzt an. Die Pomeranus II in den Wind drehen, das Segel bergen und den Baum festhalten. Ein gebrochener Schäkel ist der Grund unseres Malheurs. Jörg kramt einen neuen, stabileren Schäkel aus der Ersatzteil-Schublade und installiert die so wichtige Halterung an Ort und Stelle. Das Segel kann wieder gehißt werden. Jetzt muss der Wind mitspielen, sonst wird es längst dunkel sein, ehe wir im Hafen ankommen. Wir haben Glück: Kurz nach Sonnenuntergang laufen wir in den Hafen von Glowe ein, froh und angespannt zugleich, denn um diese Zeit noch einen Liegeplatz zu erwischen ist schwierig. Doch Segler sind hilfsbereit. Schon lotsen uns ein paar Männer zu einem freien Platz und helfen beim Vertäuen des Bootes. Geschafft.
Motor fährt nur mit halber Kraft
Doch an Ausruhen ist nicht zu denken. Die Gedanken sind schon beim nächsten Tag: Wie weit kommen wir? Welcher Wind erwartet uns? Reicht der Diesel wenn wir längere Zeit per Motor unterwegs sind? So geht es von Anfang an. Seit dem Start der Umsegelung Rügens im Heimathafen von Gustow, gilt es Lösungen für aufkommende Probleme zu finden. Und die hatten es bereits in sich. Denn gleich zu Beginn streikte der Motor und lief nur mit halber Kraft. So wurde aus der kalkulierten einstündigen Fahrt bis zur Rügenbrücke und nach Stralsund ein Ganztagestrip incl. einer Pause auf der Insel Dänholm. Die Hoffnung dort jemanden zu finden, der einen fachkundigen Blick ins Motorinnere werfen kann zerschlug sich.
Aber aufgeben geht nicht und warten bis Montag auch nicht. Das beste Mittel: Der Kontakt zu benachbarten Seglern im Hafen. Herr Schubert und seine Frau Emma liegen im Yachthafen von Stralsund gleich neben uns. Sofort entwickelt sich ein Gespräch und keine drei Minuten später hat Herr Schubert seine Diagnose parat: „Der Kraftstofffilter muss ausgetauscht werden“, sagt er mit seiner sonoren Kapitänsstimme – „zu 90 Prozent“, fügt der erfahrene Hamburger Seefahrer hinzu. Herr Schubert weiß auch gleich einen Mechaniker, der bei seiner „Störtebecker“ bereits Wunder vollbracht haben soll. Der Haken: Der Motorspezialist sitzt in Wiek, gut acht Segelstunden entfernt im Norden von Rügen gelegen.
Herr Schubert – ein Seemann mit Erfahrung
Wagen wir den Segeltörn mit einem defekten Motor? Wir hören, dass morgen der Wind aus West/Nordwest wehen soll. Das wäre ideal – gleich in der Früh wollen wir starten. Doch zum Frühstück ziehen dicke, dunkle Wolken Richtung Hafen. Kurz darauf prasselt der Regen heftig auf das Kajütendach, begleitet von Blitz und Donner. Die Stimmung ist im Keller. Ans Segeln ist nicht zu denken. Doch keine zwei Stunden später ist der Himmel wieder klar und ein kräftiger Wind pfeift tatsächlich aus West/Nordwest. Ganz wie vorhergesagt.
Mit sorgenvoller Miene steht Herr Schubert am Steg und wirft uns die Leine zu. Er wünscht uns Glück, will Zuversicht ausstrahlen, doch als er sieht, dass unser Manöver im Hafen mit dem schwachen Motor scheitert, werden seine Sorgenfalten größer. Ein benachbarter Segler schaltet schnell, hüpft in ein motorisiertes Schlauchboot, wirft uns eine Leine zu und zieht uns aus dem Hafen. Kapitän Schubert ist erleichtert, ich sehe es in seinem Gesicht. Als wir die Kaimauer umfahren erreicht uns sein letzter Gruß.
Flitzend in den Wieker Bodden
Erst als ich den Bug der Pomeranus II nach Setzen von Groß- und Focksegel aus dem Wind drehe, merke ich die ganze Kraft der starken Böen, die in das Großsegel drücken. Sofort krängt das 56 Jahre alte Holzboot, das mit seinem Langkiel eigens für die Ostsee geschaffen ist. Der Bug schneidet seitlich in die Wellen und läßt die Gicht bis nach achtern spritzen. Kraftvoll muss ich jedesmal gegen rudern um Kurs zu halten. Hart am Wind segeln wir nach Norden, vorbei an der Insel Ummanz, an Hiddensee im Westen und Schaprode im Osten bis hinein in den Wieker Bodden. Hier schiebt uns der Wind sogar noch von hinten an, so dass wir geradezu durch den Bodden flitzen.
Mit viel Mühe und guter Teamarbeit gelingt es uns, trotz des Windes einen Liegeplatz anzusteuern. Geparkt in Nr. 13, Motor aus, Leinen gut befestigt, und dann bricht sie sich Bahn: Die pure Erleichterung, kiloweise fällt die Last der Anstrengung und der Ungewissheit von uns ab und eine Portion Stolz gesellt sich hinzu. Selten haben am Abend der Backfisch und das frische Pils im Hafenimbiss so gut geschmeckt.
„Sie brauchen einen Taucher“
Wie verabredet steht der Schiffsmechaniker pünktlich um acht Uhr an unserem Steg. Seine Augen verraten Entschlossenheit, Tatkraft und guten Humor. Schnell hat er den Kraftstofffilter ausgetauscht und noch zwei weitere Schwachstellen behoben. Dann die Ernüchterung: Der Motor hat noch immer nicht die notwendige Power. Der Wieker Monteur überprüft weitere mögliche Fehler, muss kurz darauf aber eingestehen, dass er von sich aus nichts mehr tun kann. Und jetzt? „Sie brauchen einen Taucher“, sagt der Rüganer Techniker mit einem verschmitzten Grinsen.
Die Ostsee ist nicht gerade warm und das Wasser im Hafen ist nicht das sauberste – und doch nimmt sich Segelgefährte Jörg ein Herz, setzt sich eine Taucherbrille auf und springt ins Nass, um die Schiffsschraube zu untersuchen. Sein erstes Auftauchen bringt Klarheit: Muschelbefall an der Schraube. Für den Mechaniker ein klares Indiz für den Kraftverlust. „Die Muscheln müsst ihr abschaben“, lautet sein Auftrag. Und tatsächlich: Jörg taucht gut acht mal mit einem Spachtel in der Hand hinunter und kratzt die Muscheln von der Schraube. Und wird so zum Helden. Denn seine Mission ist erfolgreich: Der Zwei-Zylinder läuft wieder mit voller Kraft.
Die Euphorie als Motor
Jeder kennt das: Glücksgefühle setzen Kräfte frei und führen leicht zur Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. So will ich nach dem Boddentrip unbedingt hinaus auf die Ostsee, auch wenn der Wind so schwach ist, dass sich die Wasseroberfläche kaum kräuselt. Doch ich verbreite Euphorie, Jörg sieht das anders: Er möchte lieber bis Hiddensee fahren und abwarten bis der Wind günstiger steht. Am Ende ziehen wir doch an einem Strang. Und irgendwann auf der Ostsee kommt auch tatsächlich der Wind und wir erreichen Glowe zwar spät, aber sicher.
Am vierten Tag steuern wir Sassnitz an. Ein Highlight der Tour: Unterwegs werden wir die berühmten Kreidefelsen, und den Königsstuhl vom Meer aus bewundern können, so der Plan. Der Wind weht kräftig, wir segeln hart am Wind, die Pomeranus II schaukelt gewaltig von einem Wellental ins nächste. Auf der Höhe des Nationalparks Jasmund wird der Wiind weiter auffrischen. Böen in Stärken 7 bis 8 hat der Windfinder vorhergesagt. Heute fehlt mir der Mut. Krampfhaft hole ich die Fock dicht und ertrage einen Wellenritt nach dem anderen. Irgendwann platzt es aus mir heraus: „Ich will nicht weiter.“ Lieber heute im Hafen von Lohme anlegen und hoffen, dass der Wind bald abflaut. Abgemacht. Genauso haben sich auch andere Segler entschieden. Wie sonst ist zu erklären, dass um 11.30 h noch so viele Yachten im Hafen liegen.
Vom Café „Niedlich“ aus, das in traumhaft exponierter Lage am Hang über dem Hafen von Lohne thront, blicken wir auf die langgestreckte Bucht des Tromper Wiek und das in der Ferne liegende Cap Arkona und sehen, wie sich andere Segelyachten durch die aufgewühlte Ostsee Richtung Hafen kämpfen. Das steht uns morgen auch bevor, wenn sich die See nicht beruhigt, denken wir und richten den Blick sorgenvoll gen Horizont.
Pomeranus II hat seine Qualitäten
Am morgen haben wir ideale Bedingungen. Bei Windstärke 3 bis 4 passieren wir die Kreidefelsen, die von der Sonne beschienen ihre ganze Strahlkraft offenbaren. Erst weit in der Ferne ist kaum sichtbar Mönchsgut zu erahnen, der nächste Landvorsprung, bis dahin segeln wir auf offenem Meer – und machen richtig Fahrt. Mal kreuzt die Fähre nach Bornholm unseren Weg, mal ein Ausflugsschiff, das Touristen an der Kreideküste entlang führt, mal zieht eine andere Segelyacht grüßend und stark krängend an uns vorbei. Auch wenn fast alle Schiffe größer und imposanter wirken: Die Pomeranus ist mit ihren vorzüglichen Segeleigenschaften einzigartig: Ein Holzboot, in der DDR 1961 nach dem Vorbild eines skandinavischen Folkebootes erbaut, hat allen Veränderungen im Segelbootsbau getrotzt. Gut gepflegt von ihren Vorgängern und mit viel Liebe zum Detail ausgestattet, zeigt uns der Langkieler seine Heimat, die Ostsee.
Lob vom Hafenmeister
Nach gut siebstündigem Törn befinden wir uns kurz vor der Einfahrt in den Thiessower Hafen und laufen auf Grund. Wieder sind es hilfsbereite Segler, die uns aus der Patsche helfen. Schnell eine Leine an der Bugklampe befestigt, zu zweit auf Steuerbordseite gestellt und schon sind wir raus aus dem Sand. die letzten Tonnen bis in den Hafen werden zum Zitterspiel, die Angst vorm erneuten auf Grundlaufen ist riesig. Im Hafen angekommen zeigt sich der Hafenmeister von unserer Tagesetappe beeindruckt. „Von Lohne kommt Ihr?, tolle Leistung“, sagt er anerkennend. Das hören wir gerne, sehr gerne.
Seine Worte geben nochmal Kraft für unsere letzte Etappe: einmal über den Greifswalder Bodden und hinein in den Strelasund. Mit einer Mischung aus Kreuzen, Hart-am-Wind-segeln und per Motor schaffen wir die letzten 23 Seemeilen bis nach Gustow. Am frühen Abend winkt der Heimathafen – wir haben es geschafft.